Sie hat ihr Kind seit Jahren nicht mehr gesehen, trotzdem erwähnt sie wie beiläufig, dass sie eins hat. Zehn Jahre alt ist Letitia heute – die Kleine lebt in einem Kinderheim in Sathmar/Satu-Mare. Das Zugticket sei zu teuer, um sie zu besuchen, beteuert Estera Lakatos (31). Sie lächelt, während ihr Blick ständig hin und her schweift. Ihr in die schwarzen Augen zu schauen ist schwierig. Locker erzählt sie, wie sie vor acht Jahren sogar in der Temeswarer Kanalisation geschlafen hat. Hungrig, ungewaschen, ungekämmt, im Dunkeln, von Leuten umgeben, die aus Tüten die Straßendroge „Aurolac“ – billige, lack- und aluminiumhaltige Farbe – einatmeten. Ihrem Partner zuliebe sei sie damals in einen Kanal am Volkspark gegangen. „Ich bin ihm gefolgt, weil ich ihn gemocht habe“, erinnert sich Estera heute.
Sie ist „Zigeunerin“, wie sie sich selbst bezeichnet. Ihre Eltern waren von Anfang an gegen ihre Freundschaft mit Catalin, einem Rumänen. Sie hätte einen Rom heiraten sollen, was sie aber nicht wollte. Mit Mutter und Vater zerstritten, aber ihrem Herzen folgend, entschied Estera Lakatos, von zu Hause wegzugehen. So landete sie auf der Straße.
Zusammen mit Catalin - ihrem Lebensgefährten seit über zehn Jahren - übernachtet sie nun im „Pater Jordan“-Nachtasyl der römisch-katholischen Hilfsorganisation „Caritas“. Drogen habe sie nie genommen und man sieht es ihr an, dass sie stolz darauf ist. Auch ihren Mann habe sie überzeugt, mit dem Schnüffeln der gehirnzerstörenden Straßendroge aufzuhören. Im Nachtasyl an der Brâncoveanu-Straße ist es „gut und fein“, sagt Estera Lakatos. Tagsüber hält sie sich am Nordbahnhof auf. Sie sagt es nicht direkt, aber wir verstehen: Sie bettelt. „Ich habe versucht, mich bei einer Firma anstellen zu lassen, aber ich bin beim Lebenslauf (sie sagt: "CV") durchgefallen“, erzählt sie betrübt. Sie würde gern arbeiten, doch eine Chance gibt ihr kaum jemand. Sie hat nur wenig Arbeitserfahrung: Diese resümiert sich auf einen Job bei der Firma „Kinder“ für Überraschungseier und in der Küche eines italienischen Restaurants - als Geschirrspülerin.
Ein Abend im Nachtasyl
Estera Lakatos und ihr Mann Catalin sind zwei der über hundert Mitbewohner des „Pater Jordan“-Nachtasyls. Das Tischgebet wird gesprochen, als wir das Gemeinschaftszimmer betreten. Neugierige Augenpaare starren uns an und durch die Runde flüstert man: „Cine-s astia, ba?“ Das Essen wird gebracht: Es gibt Maisbrei mit Fleischsauce. Die Köchin ruft die Obdachlosen beim Namen. Niemand drängt sich vor, alle warten ruhig auf die warme Mahlzeit, die ihnen gebührt. „Regel ist Regel und das wissen die meisten auch. Wenn sie Ärger machen, bleiben sie nächstes Mal vor der Tür“, sagt Aufpasser Petru Bârza (27). 87 Schlafplätze gibt es im Nachtasyl der „Caritas“, doch am Abend unseres Besuchs dürfen über hundert Obdachlose rein. „Bei dieser Kälte können wir sie doch nicht auf der Straße lassen“, sagt Bârza. Zwei Sozialarbeiter kümmern sich abwechselnd Nacht für Nacht um die Betreuten. Petru Bârza ist seit fünf Jahren im Asyl tätig. „An meinem ersten Arbeitstag haben sich zwei Obdachlose gestritten und einer hat begonnen, seinen Arm mit einem scharfen Messer aufzuritzen. Ich habe mir gesagt: Wenn die Nacht vorbei ist, komme ich nie wieder“, erinnert sich der Psychologie-Absolvent. Gegangen ist er am zweiten Morgen dann doch nicht. Er hat gelernt, die Ruhe zu bewahren, wenn es zu Streitigkeiten kommt. „Das ist nur selten der Fall“, teilt er uns mit. Betrunken dürfen die Obdachlosen nicht in die Notübernachtung. Auch nicht mit Messern und sonstigen Stichwaffen. „Wenn ein alter Mann nach Alkohol riechend bei diesen frostigen Temperaturen zu mir kommt, soll ich ihn dann auf die Straße schicken?“ fragt Petru Bârza rhetorisch. Jede Regel hat ihre Ausnahmen.
Wiedertreffen am Nordbahnhof
Nächster Tag. Bei klirrender Kälte – um 10 Uhr in der früh – am Temeswarer Nordbahnhof. Ein paar Leute, die auf den Bahnsteigen auf den nächsten Zug warten. Einige Obdachlose haben sich im Wartesaal ein warmes Plätzchen gesucht. Die Blicke gesenkt, mit einer trüben Miene. Estera Lakatos befindet sich nicht unter ihnen.
„Ich bin gestern aus Oltenien angekommen. Ich suche mir jetzt einen Job. Übernachtet habe ich im Nachtasyl“. Unser Gesprächspartner ist 44, sieht aber wie 60 aus. Wir geben die Hoffnung auf, Estera wiederzutreffen. Dann eine Stimme: „Guten Morgen“. Sie kommt aus einer kleinen Bude neben dem Bahnhof, die als Bar funktioniert. Es ist unsere Gesprächspartnerin vom Vortag. „Bei dieser Kälte hocke ich meistens in den Bars hier. In die Zugwaggons dürfen wir nicht mehr, seit vor einigen Tagen einer abgebrannt ist“, sagt Estera. Sie geht ein paar Schritte mit uns, kehrt dann zurück in die Bar, wo ihr Freund auf sie wartet. Und sie warten gemeinsam auf abends acht Uhr, wenn das Nachtasyl wieder seine Pforten öffnet.
„Ein Großteil derjenigen, die auf der Straße landen und dann bei uns Unterschlupf suchen, sind wegen Alkoholproblemen auf der Straße. Es gibt auch einige, die psychische Störungen aufweisen. Das sind jedoch nicht so viele“, sagt uns Bârza. Zu hören sind auch einige andere Geschichten. Ein Siebzigjähriger hatte sein Haus für ein paar Wochen seinem Sohn und seiner Schwiegertochter überlassen. Bei seiner Rückkehr fand er nicht seine Kinder – sondern ein paar Fremde in seinem Haus. Die Zwei hatten inzwischen das Haus verkauft und haben sich ein „sonnigeres Plätzchen“ im Ausland gesucht. „Seitdem lebt er auf der Straße“, erzählt uns der Betreuer. 70 Prozent derjenigen, die das Nachtasyl in Anspruch nehmen, sind „Stammkunden“. Von diesen ist knapp die Hälfte über das mittlere Alter hinaus. Viele der Jüngeren sind ehemalige Heimkinder.
Finanzierungsschwierigkeiten
In seiner jetzigen Form besteht das Nachtasyl seit 2000. Eine der Regeln hier besagt, dass ein Unterkunftssuchender für drei hintereinander folgende Monate hier beherbergt werden kann. Dann muss er das Haus verlassen. Vier Monate müssen vergehen, bis er erneut, für weitere drei Monate, einen Schlafplatz in Anspruch nehmen darf. Die Plätze reichen trotzdem nicht aus. „Es gab mal den Fall, wo 20 Leute aus Bârlad nach Temeswar gekommen waren“, sagt uns Bârza.
An einen Ausbau wird zurzeit nicht gedacht. „Solange wir nicht über die nötige Finanzierung verfügen, können wir nicht an eine Erweiterung denken“, sagt uns Herbert Grün, Geschäftsführer der „Caritas“ Temeswar. „Im vorigen Jahr wurden 80.000 Euro für das Nachtasyl ausgegeben. Ein Großteil des Geldes stammt aus Spenden, der Stadtrat hat mit drei Gehältern pro Monat beigesteuert“, so Grün. Dass dies nicht besonders viel ist, wird aus der Höhe des Gehalts ersichtlich: 1000-1100 Lei bekommt ein Angestellter der Einrichtung. Jetzt hofft man auf eine Aufstockung auf sechs Gehälter und die Übernahme der Nebenkosten - Gas, Wasser und elektrischer Strom. „Wir hoffen in diesem Jahr auf ungefähr 40.000 Euro vom Stadtrat“, so der Caritas-Leiter. Seitens des Staates gibt es keine Subventionen. Vielleicht etwas befremdlich, aber es wurden nicht die nötigen 60 Punkte eines standardisierten sozialen Evaluierungssystems erreicht, um Gelder vom Staat zugeschossen zu bekommen.
Raluca Nelepcu & Olivian Ieremiciu, Temeswar, 2. Februar 2010 |