Über 2,5 Millionen Rumänen – das heißt einer von neun – sind auf Jobsuche ins Ausland gegangen. Darunter leiden viele Kinder. In den Westen ziehende rumänische Arbeitsmigranten haben mehr als 100.000 Töchter und Söhne zurückgelassen, meist in der Obhut von Großeltern oder anderen Verwandten. Über das Schicksal der „EU-Waisen“ berichtet Ingrid Schiffer.
Dana ist Schülerin der Allgemeinschule Nr. 2 in Großsanktnikolaus. Sie ist gerade mal 13 Jahre alt und wohnt bei den Großeltern. Auch Alexandra wohnt bei der Großmutter in Großsanktnikolaus. Die Mütter können ihre Töchter nicht nach Italien mitnehmen. Doch eine Rückkehr nach Rumänien kommt für sie im Moment auch nicht in Frage. In Italien verdienen die Mütter 700 Euro im Monat, also 7 Mal soviel wie im westrumänischen Großsanktnikolaus, und sie schicken regelmäßig Geld nach Hause. Dana und Alexandra sind keine Ausnahme. In Rumänien leben nach offiziellen Zahlen mehr als 100.000 EU-Waisen. Damit sind Kinder gemeint, die durch die Jobsuche im Ausland mindestens ein Elternteil für ein paar Jahre verloren haben. Etwa die Hälfte dieser Kinder lebt mit Mutter oder Vater zu Hause, der jeweils andere arbeitet im Ausland. Fast ein Viertel dieser Kinder wohnt bei Verwandten. Einige mussten sogar in Kinderheime umziehen.
Dietlinde Huhn ist Deutschlehrerin und stellvertretende Direktorin der Allgemeinschule Nr. 2 in Großsanktnikolaus. Sie wird auf immer neue Fälle in der Schule aufmerksam. Dass die Eltern den Kindern fehlen, das fällt sofort auf. Verhaltensänderungen oder -auffälligkeiten deuten in den meisten Fällen auf familiäre Probleme hin. Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten, sind in der Schule meist besser gekleidet und bekommen mehr Taschengeld. Sie werden mittels E-Mail, Telefon oder mittels Webcams erzogen. Doch die finanziellen Kalkulationen der Eltern wälzen langfristige Kosten auf ihre Kinder ab: viele Lehrer beklagen, die betroffenen Kinder schwänzten die Schule, seien aggressiv oder besonders verschlossen. Ihre Leistungen in den Schulen sind schlechter als die ihrer Altersgenossen.
Obwohl die Migration Richtung Westen in den letzten Jahren ein sehr verbreitetes Phänomen darstellt, ist sie gerade in Großsanktnikolaus etwas überraschend. Wegen dem Mangel an Arbeitskraft ist die Arbeitslosenquote hier gleich Null. Nur wer nicht will, findet keine Arbeit, sagt Deutschlehrerin Dietlinde Huhn. Zur Emigration ermutigen aber auch dort kleine Gehälter. Inzwischen sind die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auch in Großsanktnikolaus spürbar geworden. Das Damoklesschwert schwebt – auch über die Ortschaft an der westrumänische Grenze. Wird die Wirtschaftskrise 2008/9 die Arbeitsmigranten nach Rumänien zurückbringen?
Ingrid Schiffer, Temeswar, 05.03.2009 |